Donnerstag, 10. November 2016

Speed-Dating für potenzielle Nationalspieler

Die letzte Länderspielwoche des Jahres steht an und für das Spiel gegen den Fußballriesen San Marino und das ewige Duell gegen Italien hat Joachim Löw mit Serge Gnabry, Yannick Gerhardt und Benjamin Henrichs (mal wieder) drei Neue in das Aufgebot der DFB-Elf berufen. Angesichts der vergleichsweise geringen Erfahrung der Neuberufenen stellt sich die Frage: wie viele Spiele braucht es eigentlich, um Nationalspieler zu werden?


Gerhardt, Gnabry und Henrichs haben bislang 54, 20, bzw. 18 Erstligaeinsätze in ihrer Karriere zu verzeichnen (Stand: 10.11.2016) und verfügen damit über eine vergleichsweise geringe Erfahrung. In den letzten Jahren ist mir angesichts solch "Frühberufener" immer wieder Zoltán Sebescen in den Sinn gekommen, der für mich das Paradebeispiel einer vollkommen verfrühten und unberechtigten Nominierung für die Nationalmannschaft ist. Sebescen hatte gerade 8 Bundesligaspiele absolviert, als ihn Erich Ribbeck für ein Länderspiel gegen die Niederlande nominierte. Die ersten - und gleichzeitig letzten - 45 Minuten in der Nationalmannschaftskarriere von Sebescen verliefen dann, freundlich gesagt, suboptimal. Nicht erst seit diesem misslungenen Debüt bin ich ein Verfechter einer längeren Bewährungsdauer vor dem ersten Einsatz im DFB-Team. Zuletzt führte das kurz vor der EM wieder zu einer längeren Diskussion: angesichts von Spielern wie Lars Stindl (s. auch: Spieler mit den meisten Bundesligaeinsätzen, ohne je für die Nationalmannschaft nominiert worden zu sein), die über mehrere Jahre ihre Tauglichkeit auf einer bestimmten Position nachwiesen, hielt ich die Nominierung von Leroy Sané für ungerechtfertigt.

Auch wenn die Diskussion dann irgendwann ergebnislos im Grunde unzähliger Biergläser verlief, brachte sie mich doch auf eine Frage: wie viele Spiele braucht es eigentlich, um Nationalspieler zu werden? Natürlich lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten, scheint es doch logisch, dass ein großes Talent wie Mario Götze früher berufen wird als ein grundsolider Spieler vom Kaliber eines Arne Friedrich (wie wir demnächst sehen werden: Stimmt nicht!). Eine Antwort auf diese Frage gibt es aber doch: bevor ein Spieler in der deutschen Fußballnationalmannschaft zum Einsatz kommt, hat er im Schnitt 86,87 Erstligaspiele absolviert (für Details zur Datengrundlage s. letzter Absatz1). Neben dieser nackten Zahl hat die Recherche aber noch einige weitere interessante Fakten hervorgebracht.

Sollten Gerhardt, Gnabry und Henrichs in einem der beiden Spiele zum Einsatz kommen, wären sie die Debütanten Nummer 84, 85 und 86 in der mittlerweile über 10 Jahre währenden Ägide Joachim Löw. Eine solch hohe Anzahl an Debütanten können in der Geschichte der deutschen Fußballnationalmannschaft lediglich Otto Nerz, Sepp Herberger und Helmut Schön aufweisen. Sepp Herberger verhalf in seinen 167 Spielen als verantwortlicher Reichs- bzw. Bundestrainer sagenhaften 222 Spielern zu ihrem Debüt im DFB-Dress. Was die Anzahl der Debütanten je Spiel angeht, liegt Herberger damit aber noch weit hinter Otto Nerz zurück. In dessen Ägide als Reichstrainer debütierten pro Spiel der Nationalmannschaft 1,89 neue Spieler. Mit den Jahren nahm die Quote der Debütanten dann rapide ab. Im Vergleich zu seinen jüngeren Vorgängern liegt Löw mit 0,59 Debütanten pro Spiel sogar hinter Erich Ribbeck und Franz Beckenbauer (s. Tabelle). Den niedrigsten Debütantenschnitt hat erstaunlicherweise der als Reformer verschriene Jürgen Klinsmann. 12 Debütanten in 34 Spielen ergeben eine Quote von 0,35, in etwa jedem dritten Spiel setzte Jürgen Klinsmann im Schnitt also einen Debütanten ein. Das Spielermaterial schien in Klinsmanns Augen also eher nicht das Problem zu sein.

In einer Kategorie ist Klinsmann dann aber doch einsamer Spitzenreiter: Unter keinem anderen Bundestrainer haben die Debütanten im Schnitt weniger Erstligaeinsätze vor ihrem ersten Einsatz im DFB-Dress absolviert. Gerade mal 41 Spiele benötigten Klinsis 12 Debütanten im Schnitt. Joachim Löw liegt in dieser Kategorie auf Rang 2, allerdings mit deutlichem Abstand mit etwa 20 Spielen mehr im Schnitt. Im Gegensatz dazu schienen Franz Beckenbauer und sein Nachfolger Berti Vogts eher auf reifere Männer zu stehen: 116 bzw. 126 Erstligaeinsätze hatten Debütanten dieser beiden Trainer auf dem Konto, bevor sie sich das Trikot mit dem Bundesadler überstreifen durften - etwa drei mal so viel wie unter Klinsmann.2

Auch beim Alter der Debütanten zeigen sich große Unterschiede. Hier ist wiederum Jürgen Klinsmann der Spitzenreiter, dieses Mal allerdings eng gefolgt von Joachim Löw. Zwischen 22 und 23 Jahre sind ihre Debütanten im Schnitt alt. Die Debütanten von Berti Vogts waren dagegen im Schnitt über 25,5 Jahre alt - klar: mehr Erstligaspiele gehen in der Regel mit höherem Alter einher. Merkwürdig scheint hier aber der Vergleich mit Erich Ribbeck: Ribbecks Debütanten waren nur etwa ein halbes Jahr jünger als die von Vogts, hatten aber fast 50 Erstligaspiele weniger absolviert! Das spricht entweder dafür, dass zu Ribbecks Zeit die deutschen Spieler in den Ligen weniger Einsätze bekamen oder dafür, dass Ribbeck Spieler berief, die in höherem Alter in die Bundesliga kamen und vielleicht nicht ganz über das Rüstzeug von Nationalspielern verfügten. Die Bewertung sei hier angesichts von Spielern wie Heiko Gerber, Ronald Maul, Zoltán Sebescen und Marco Reich jedem selbst überlassen.

Reichs- bzw. Bundestrainer Spiele als Trainer Anzahl Debüt-
anten
Debü-
tanten je Spiel
Erstliga-
spiele vor Debüt im Schnitt
Durch-
schnitts-
alter bei Debüt
Otto Nerz 70 132 1,89 -2 23,63
Sepp Herberger 167 222 1,33 -2 24,42
Helmut Schön 139 98 0,71 87,50 24,11
Jupp Derwall 67 46 0,69 95,43 24,29
Franz Beckenbauer 66 40 0,61 116,03 24,41
Berti Vogts 102 56 0,55 126,27 25,68
Erich Ribbeck 24 15 0,63 79,33 25,02
Rudi Völler 53 26 0,49 68,15 23,44
Jürgen Klinsmann 34 12 0,35 41,08 22,21
Joachim Löw 141 83 0,59 64,10 22,78


1 Grundlage der Auswertung ist eine Tabelle mit allen deutschen Fußballnationalspielern laut Homepage des DFB (Link). Das Datum des ersten Länderspiels stammt ebenfalls jeweils vom DFB. Die Geburtstage der Spieler wurden Wikipedia entnommen. Für die Auswertung der Erstligaspiele vor dem Debüt wurden alle ersten europäischen Fußballligen Europas (inkl. der DDR-Oberliga) betrachtet. Die Daten über die Einsätze in der Bundesliga beruhen auf Angaben des Kicker (Link). Für Spiele in anderen europäischen Ligen wurden Daten von Transfermarkt herangezogen, sofern diese gepflegt waren (Link). Darüber hinaus stammen Angaben zu Einsätzen in Spanien, Italien, England, Portugal, und Österreich von Weltfussball (Link). Für die türkische Liga wurden die Angaben der Turkish Football Federation herangezogen (Link). Unvollständig sind die Daten zur belgischen Liga. Die verwendeten Daten stammen von der Belgian Soccer Database (Link), hier liegen allerdings nicht für alle relevanten Spielzeiten Daten vor. Die Angaben zu einigen Spielern sind daher unvollständig. Dies betrifft: Erwin Kostedde, Rolf Rüssmann, Harald Nickel, Heinz Gründel, und Armin Görtz. Sie alle absolvierten Spiele in der ersten belgischen Liga, bevor sie ihr Debüt im DFB-Dress feierten.
2 Otto Nerz und Sepp Herberger wurden bei der Auswertung der vorherigen Erstligaeinsätze aufgrund der mangelnden Datenlage nicht berücksichtigt.


Folgende Tabelle bildet die Grundlage der durchgeführten Auswertung:

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