Sonntag, 3. Dezember 2017

Wir sind die Scheinheiligen

Die Bundesliga-Saison ist im vollen Laufe und damit nähert sich auch das Wintertransferfenster wieder mit großen Schritten. Auch wenn die Wintertransfers in der Regel etwas sparsamer ausfallen, werden sicherlich wieder einige Millionen Euro und Dollar (und vielleicht sogar Bitcoins?) den Besitzer wechseln. Dabei ist die Aufregung um das vergangene Sommertransferfenster noch nicht mal verstummt. Selbst in den deutschen Medien vergeht kaum eine Woche, in der nicht über Neymar, seine irren (angeblichen) Sondervertragsklauseln und die „irrsinnige“ Ablösesumme berichtet wird.

Von Neymar ist die Erregungsleitung zu Ousmane Dembélé, Romelu Lukaku, Alvaro Morata, und wie die ganzen Superschnäppchen des vergangenen Sommers noch alle hießen, kurz. In der letzten Woche sprang auch der NDR-Sportclub auf die Empörungswelle auf und stellte die Frage: „Wem gehört der Fußball?“ Die Schuldigen für die gefühlte Entfremdung „der Fans“ vom „Fußball“ sind natürlich schnell gefunden: Die bösen Geld-in-den-Fußball-Werfer; geldgeile Sportfunktionäre; die gierigen Spielerberater; und nicht zuletzt die Spieler, die sich erdreisten, die vielen Scheine, die ihnen entgegen geflogen kommen, schamlos in ihre Taschen zu stecken. Für den gemeinen Fan bleibt, im doppelten Sinne, nur noch die Zuschauerrolle. Ich möchte dagegen halten: Machen wir es uns hier nicht zu einfach? Tragen wir alle, als „die Fans“, nicht einen ebenso großen Teil der Schuld?

Zunächst mal bleibt zu klären, mit welchen Begrifflichkeiten in der Debatte um Millionentransfersummen und die Entfremdung vom Fußball überhaupt um sich geworfen wird. Abgesehen davon, dass „der Fußball“ im engsten Sinne, nämlich im Sinne eines runden Gegenstandes aus heutzutage jeder Menge Kunststoff, nur dem gehört, der in einem Geschäft seiner Wahl dafür Unsummen in den Rachen der Ausbeuter aus Herzogenaurach und Oregon wirft, ist mit „dem Fußball“ allgemeinhin nur der kleinste Teil des praktizierenden Fußballsports auf dieser Welt gemeint: Der Profi-Fußball. Journalist Christoph Ruf erwähnt im Beitrag des NDR in einem beiläufigen Satz einen interessanten Aspekt der Debatte, der aber natürlich in der medial ausgeschlachteten Diskussion kaum eine Rolle spielt: Bei Debatten über „den Fußball“ geht es in der Regel um die weniger als 0,01% aller Fußballer weltweit, die diesen Sport profihaft betreiben. Wer braucht schließlich schon Berichterstattung über die Randgruppe von mehr als 99,9%?

Das nächste etymologische Highlight bietet dann der Begriff des „Fans“. Die Frage, wer denn nun ein „Fan“ ist und wer nicht, ist wahrscheinlich mindestens so alt, wie der Fußball selbst und bis heute Gegenstand hitziger Diskussionen in den Vereinsforen dieser Welt. Bin ich nur dann ein Fan, wenn ich im Sommer 1998 im litauischen Kaunas, im belgischen Lommel, in Samsunspor in der Türkei und selbstverständlich auch in Novi Sad in Serbien dem SV Werder Bremen im UI-Cup die Daumen drückte? Ist eine Dauerkarte meine Eintrittskarte in den erlauchten Kreis „der Fans“? Bin ich schon „Fan“, wenn ich alle zwei Jahre meine hübschen Fähnchen an meine Autofenster packe und mir für die Fanmeile drei Farben ins Gesicht male? Oder gehöre ich nur dann zu „den Fans“, wenn ich einer der hirnverbrannten Idioten (vermutlich mal ein Pyroerzeugnis zu nah an den Kopf gehalten) bin, die regelmäßig nach der ersten Runde im DFB-Pokal eine epische Sicherheitsdiskussion um den deutschen Fußball auslösen, die dann mit viel heißer Luft (und selbstverständlich ohne jedwede Ergebnisse) nahtlos in die Diskussion um die Einseitigkeit der Bundesliga übergeht? Bei so viel Differenzierungspotenzial kann man als Journalist natürlich schon mal die Lust verlieren. Die Lösung liegt nahe: Alles egal; „die Fans“ ist vage genug für die deutsche Medienlandschaft.

Nach diesen etymologischen Ausschweifungen zurück zum Inhalt: Ja, „der Fußball“ (im Sinne von: die 0,01%) ist mittlerweile ein Geschäft. Ja, der Fußball ist scheinheilig, korrupt, und geldgierig. Ja, selbstverständlich sind 222 Millionen für einen Spieler vollkommen unnötig und moralisch vermutlich verwerflich. Ja, es ist auf jeden Fall fragwürdig, Kinder und Jugendliche aus ihrem familiären Umfeld zu reißen, sie mit zwanzig anderen Kindern zusammen zu pferchen, sie unglaublichem Leistungsdruck auszusetzen, und für eine Wette auf das große Geld ihre Kindheit zu zerstören (Uups, falsche Debatte). Allerdings sind wir es, „die Fans“, die „den Fußball“ zu dem machen, was er ist: Einem Geschäft. Wir rennen Woche für Woche in die Stadien. Wir schalten die Sportschau ein. Wir schließen Sky-Abos ab. Wir kaufen den Kicker und 11Freunde. Wir klicken auf jeden Link, der auch nur im Entferntesten nach Fußball aussieht und lesen am Ende etwas über die Gäste-Adiletten von Mesut Özil. Genau diese Aufmerksamkeit, die wir dem Fußball zu Teil werden lassen, sorgt für den immensen Geldfluss im Fußball, der Jahr für Jahr in einem horrenden Wettbieten gipfelt.

Auch beim Beitrag des NDR-Sportclub schwingt, wie in so vielen Debatten über die Kommerzialisierung des Fußballs, die unterschwellige Botschaft mit, dass aus unerfindlichen Gründen Geld in den Fußball gepumpt wird, welches diesen zerstört. Von investierenden Scheichs, amerikanischen Finanzhaien und Firmen, die Abermillionen an Sponsorengeldern aufwenden, ist die Rede. Ja, so ist es. Doch warum wird in den Fußball investiert? Weil die aktuelle Entwicklung die begründete Hoffnung zulässt, dass sich diese Investitionen rentieren. Warum rentieren sich die Investitionen? Weil das Interesse „der Fans“, aller Diskussionen zum Trotz, ungebrochen ist. Nahezu jede Investition in den Fußball lässt sich auf den Fan zurückführen. Ein simples Beispiel zur Veranschaulichung: Die „Borussia Dortmund Kommanditgesellschaft auf Aktien“, dem gemeinen Fan als BVB, die Borussia, Schwatz-Gelb oder Lüdenscheid-Nord bekannt, hat im Geschäftsjahr 2016/17 Umsatzerlöse von 352,6 Millionen Euro erzielt (nur zur Erwähnung: Der BVB ist nur ein Beispiel; es hätte nahezu jeder andere Profiverein herhalten können). Dem Geschäftsbericht ist detailliert zu entnehmen, woher dieser Umsatz stammt:

Posten Betrag
(gerundet in Millionen Euro)
Anteil am Gesamtumsatz1
Spielbetrieb Bundesliga 27
Spielbetrieb Champions League
9,5
Spielbetrieb Nationale Pokale
5,3
Freundschaftsspiele 2,2
Spielbetrieb 43,9 12,46%
Transfergeschäfte 77,3 21,93%
TV-Vermarktung Bundesliga
66,1
TV-Vermarktung CL
51
TV-Vermarktung nationale Pokale
8,7
TV-Vermarktung 125,7 35,66%
Werbung (Sponsoring + Prämien)
87,4 24,78%
Vorverkaufsgebühren + Porto
4,7
Conference + Catering
3,1
Sonstiges 6,8
Abstellung Nationalspieler
3,6
Conference, Catering, Sonstige
18,2 5,17%
Gesamtumsatz 352,6

Immerhin mehr als 12% des Umsatzes erwirtschaftet der BVB durch Einnahmen aus Ticketverkäufen. Die im Beitrag des NDR erwähnten Bedenken, dass „die Fans“ nur noch einen geringen Beitrag zu den Einnahmen eines Fußballclubs beitragen, bestätigen sich somit, insofern nur die direkten Einnahmen betrachtet werden. Nichtsdestotrotz sei hier festgehalten, dass „die Fans“ nahezu 50.000.000 Euro ausgegeben haben, um Spiele des BVB live im Stadion zu verfolgen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle zudem, dass der Umsatz der Borussia Dortmund Kommanditgesellschaft auf Aktien keine Erlöse aus dem Verkauf von Fanartikeln enthält (ergo: weitere direkte Investitionen der Fans), da diese von einer Tochtergesellschaft der KGaA erlöst werden.

87 Millionen Euro erlöste der BVB im vergangenen Geschäftsjahr mit Werbung. Unternehmen bezahlen viel Geld, um auf dem Trikot und an den Banden im Stadion präsent zu sein. Warum leisten sich Unternehmen diese Investition? Weil sie sicher sein können, dass, durch die mediale Präsenz des Fußballs, ihr Markenname zig Millionen Mal im Fernsehen, im Internet, im Alltag zu sehen ist. Jede Sichtbarkeit des Markennamens soll, so wollen es die Gesetze des Marketings, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Produkt konsumiert wird. Nur weil sich Unternehmen sicher sind, dass sie mit dem Sponsoring Sichtbarkeit generieren, investieren sie. Auf den Punkt gebracht: Keine Fans, kein mediales Interesse, kein Sponsoring.

Den Großteil der Erlöse erwirtschaftete der BVB durch die TV-Vermarktung, die satte 125,7 Millionen Euro in die Kasse spülte. Die Sendestationen dieser Welt investieren also alleine in den BVB ungefähr einen Dembélé. Warum leisten sich die TV-Stationen diese Investition? Weil sie sicher sein können, dass Fußball im Fernsehen konsumiert wird. Selbst ein popeliges Supercup-Spiel, das gefühlt niemanden interessiert, erreicht Einschaltquoten, von denen HBL, BBL, DEL (ganz zu schweigen von Tischtennis, Hockey, Volleyball, usw.) nur träumen können. Interesse an der Übertragung von Fußballspielen bedeutet für die Sendestationen: Einnahmen durch Abonnenten (siehe Sky), Einnahmen durch TV-Werbung (siehe Sky und andere Private), oder Erfüllung des Sendeauftrages (siehe Öffentlich-Rechtliche; auch das wäre eine Debatte wert). Auf den Punkt gebracht: Keine Fans, kein mediales Interesse, keine TV-Gelder.

Die Einnahmen aus Transfergeschäften lassen sich auf gleichem Wege erklären. Andere Vereine sind nur deshalb bereit, Millionensummen für Spieler des BVB zu bezahlen, weil sie sich davon erhöhte Aufmerksamkeit erhoffen (sei es durch sportlichen Erfolg oder durch gesellschaftliche Relevanz, siehe Takahara, Beckham, und Co.). Auf den Punkt gebracht: Keine Fans, kein mediales Interesse, keine TV- und Werbegelder, keine Millionentransfers.

Nicht nur für die Medien ist es ein gefundenes Fressen, die Kommerzialisierung des Fußballs und die Entfremdung der Fans anzuprangern. Angesichts der Tatsache, dass sie ebenso von dieser Kommerzialisierung profitieren, ein interessanter Ansatz. Insbesondere wir Fans sollten uns aber Gedanken über die Rolle machen, die wir bei dieser Entwicklung spielen. Es ist immer leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen: Die bösen Investoren; die bösen Scheichs (die ihr Geld wohl vermutlich ebenfalls nicht in den Fußball stecken würden, wenn er nicht diese unglaubliche mediale Aufmerksamkeit erreichen würde); die gierigen Spielerberater und die scheinheiligen Spieler, die eben noch das Wappen küssen, um sich anschließend aufgrund psychischer Probleme vom Trainings- und Spielbetrieb freistellen zu lassen, nur um zwei Tage später putzfidel im Trainingsanzug eines anderen Vereins durch die Gegend zu hüpfen. Es ist mindestens so leicht, wie die Marktmacht von Google und Facebook, die Steuervermeidungsstrategien von Amazon und das Aussterben der Innenstädte und des Einzelhandels anzuprangern. Wenn im nächsten Moment aber gegoogled wird, wie man eine Flasche zudreht und 37 Weihnachtspakete bei Amazon bestellt werden, bringt das ganze Klagen nichts (außer ein bisschen moralische Entlastung).

Solange wir als Fans ins Stadion gehen; jedes Fußballspiel, das uns aufgetischt wird, im Fernsehen sehen; jede halbgare Neuigkeit im Internet anklicken und einen dreistelligen Betrag für ein Stück Stoff mit ein paar Aufdrucken ausgeben, sind wir ebenso an der Kommerzialisierung des Fußballs beteiligt, wie diejenigen, die unsere Aufmerksamkeit und damit den Markt Fußball ausnutzen (ganz ehrlich: Können wir ihnen das vorwerfen? Würden wir unser Geld nicht auch in Fußball stecken, wenn wir könnten?). Es ist uns überlassen, ob wir diese Entwicklung weiter befeuern wollen oder nicht. Solange wir an unserem Verhalten nichts ändern, sind aber die Klagen und Beschwerden über die Kommerzialisierung des Fußballs fehl am Platz.

Eine weitere Option wäre es, unsere Einstellung zum "Fußball" zu hinterfragen? Warum jubeln wir eigentlich einem tätowierten Jüngling mit komischer Frisur zu, der in seiner Freizeit mit überdimensionalen Kopfhörern aus seinem Sportwagen steigt? Warum ist es uns so wichtig, dass ein Konzern vertreten durch elf Individualisten Erfolg in einem Wettbewerb hat, dessen Aufbau, Einseitigkeit und Kommerzialisierung wir anprangern? Warum ist es uns wichtig, dass eine Nationalmannschaft einen Wettbewerb gewinnt, der von Weltkonzernen vereinnahmt wurde? Warum schauen wir uns das Spiel zweier Vereine an, von denen der eine von einem verurteilten Steuersünder und einem Liebhaber von Luxusuhren (Zoll? Was ist das?) geführt wird und der andere von einem Unternehmer initiiert wurde, der sein Vermögen mit Stiergalle gemacht hat? Warum reicht es uns nicht, am Samstag oder Sonntag auf den Platz zu gehen und nach 90 Minuten matschverschmiert ein Pils zu zischen; oder unseren Kindern/Freunden/Verwandten/Nachbarn dabei zu zu sehen, wie sie Spaß daran haben, Fußball zu spielen? Warum gibt uns der sportliche (und damit finanzielle) Erfolg eines weit von der Basis entfernten Konzerns scheinbar mehr für unsere gemeinschaftliche Identität als die integrierende und gemeinschaftliche Wirkung der kleinen Vereine in der Nachbarschaft? Wie in so vielen Bereichen des alltäglichen Lebens treffen wir als Konsumenten auch beim Thema Fußball unzählige Entscheidungen, mit denen wir Märkte, Institutionen und Unternehmen (ergo: Profifußballkonzerne) unterstützen oder eben nicht. Lasst uns aufhören, die Schuld auf diese Märkte und Institutionen zu schieben und beginnen, unseren eigenen Beitrag zu hinterfragen.


1 Alle Angaben entstammen dem Geschäftsbericht des BVB: Link

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